Journalismus

Fast nichts geht mehr ohne sie: Digitale Technologien bestimmen unsere Arbeitswelt. Das stellt Unternehmen und Mitarbeiter vor neue Herausforderungen – und vor die Frage: Wie werden wir morgen arbeiten?

Eckhard Wellbrock hat ein Ziel: Er will die Roboter aus ihren Käfigen befreien. Bei ThyssenKrupp System Engineering in Bremen arbeiten sie derzeit noch hinter Gittern. Zum Schutz der Menschen. Denn mit einem Gewicht von jeweils mehreren hundert Kilogramm haben die Kolosse enorm viel Kraft. Sie produzieren Bauteile, die ThyssenKrupp zur Herstellung von Komponenten für die Automobilindustrie verwendet. Bevor sich die Mitarbeiter den Giganten nähern, um die Teile weiterzuverarbeiten, schalten sie die Roboter zur Sicherheit aus. Diese Zeit will Ingenieur Wellbrock einsparen: „Wie Mensch und Maschine gefahrlos zusammenarbeiten können, daran forsche ich mit meinem Team.“ Die Lösungen könnten beispielsweise Mikrochips in der Arbeitskleidung sein, mit deren Hilfe die Roboter die Mitarbeiter orten können. Auch Datenbrillen, die den Mitarbeitern immer die Position der Maschinen anzeigen, seien vorstellbar. Der Ingenieur sieht in den neuen Technologien, die derzeit die Arbeitswelt umkrempeln, große Chancen: „Roboter sind dafür gemacht, schwere Lasten zu heben und monotone Tätigkeiten auszuüben. Der Mensch übernimmt meist komplexere Aufgaben, bei denen Präzision gefragt ist und Entscheidungen getroffen werden müssen.“ Das ergänze sich gut. Wellbrock betont, es gehe nicht darum, den Menschen eines Tages komplett durch Maschinen zu ersetzen, sondern ihn bei körperlich schwierigen Tätigkeiten zu entlasten.

Wie lassen sich Produktionsprozesse mithilfe neuer Technologien und Algorithmen intelligent verknüpfen? Diese Frage beschäftigt unter dem Stichwort Industrie 4.0 inzwischen Unternehmen fast aller Industriezweige. Viele von ihnen erkennen die Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung für das verarbeitende Gewerbe ergeben. Konzerne wie ThyssenKrupp sind in diesen Fragen schon vergleichsweise weit, da sie die hohen Investitionen, die eine Umstellung auf neue Technologien mit sich bringt, leichter schultern können als mittelständische Betriebe.

Neben den technischen Prozessen stellt das Potenzial der Digitalisierung dabei häufig auch die Juristen vor große Herausforderungen So geht etwa das Verschuldensprinzip in der Gesetzgebung von der Eigenverantwortlichkeit einer Person aus: „Was passiert aber, wenn bei einem Maschinenschaden gar keine Person als Verursacher auszumachen ist, weil autonome Systeme die Arbeit übernommen haben? Das ist eine ganz entscheidende juristische Frage“, sagt Hans-Jürgen Schlinkert, Justiziar für die Komponentensparte von ThyssenKrupp. Auch rund um das Forschungsthema autonomes Fahren spiele diese Frage eine wichtige Rolle. Eine Rechtsprechung hierzu gebe es noch nicht. Umso wichtiger sei es beispielsweise bei Verträgen mit Automobilherstellern bestimmte Szenarien vorwegzunehmen, um die Haftungsfrage direkt im Voraus zu klären. Hier tun sich gerade für Vertragsrechtler neue, zusätzliche Tätigkeitsfelder auf, hebt Schlinkert hervor.

Nicht nur die Industrie, auch andere Branchen wollen inzwischen verstärkt die Möglichkeiten der Digitalisierung ausschöpfen beispielsweise die Medizin: So führt die Medizinische Klinik am Universitätsklinikum Bonn (UKB) seit etwa fünf Jahren Live-Operationen durch. „Die Übertragungen sind interaktiv: Die zugeschalteten Kollegenkönnen jederzeit Fragen zu bestimmten OP-Methoden stellen oder eigene Vorschläge einbringen“, erklärt UKB-Chefarzt Georg Nickenig. Dabei handelt es sich aber in der Regel nicht um internetbasierte Veranstaltungen, zu denen sich weitere Kollegen einwählen können, vielmehr überträgt das UKB die Operationen an einen festen Ort– meist zu renommierten Fachkongressen, an denen Mediziner aus aller Welt teilnehmen. Die Übertragung erfordert modernstes technisches Equipment, das die Bild- und Tonsignale der medizinischen Geräte möglichst exakt wiedergibt, aber auch eine Echtzeit-Kommunikation mit den Zuschauern ermöglicht. Nickenig hält solche Live-Operationen vor allem für den globalen Austausch unter Experten und für die Weiterentwicklung von operativen Methoden zukünftig für wichtig. Damit sie sich als Standard zu etablieren, so die Einschätzung des Mediziners, brauche es noch eine Zeit: „Dafür sind sie technisch, personell und zeitlich noch viel zu aufwendig."

Ein wenig Zeit braucht auch der Mittelstand noch. Er tut sich mit der Nutzung digitaler Technologien ebenfalls schwer: 63 Prozent der Unternehmen gaben selbstkritisch zu, dass sie das Thema bisher vernachlässigt hätten. Das ergab eine Studie der Commerzbank unter mittelständischen Firmen, die das Institut 2015 publizierte. Trotzdem sehen 86 Prozent in der Digitalisierung große Möglichkeiten für den Standort Deutschland.

IT-Berater, -Entwickler und andere innovative Dienstleister häufig aus der Startup-Szene - haben diese Chance längst ergriffen und nutzen die Technologien für ihre Geschäftsmodelle. Sie bieten beispielsweise hilfreiche Apps oder andere Dienste wie Video-Sprechstunden, mobile Fitnessmessgeräte oder Systeme zur Steuerung des digitalen Zuhauses („Smart Home“) an. „Immer mehr Firmen erkennen in der Digitalisierung einen Markt und werden bei ihren Geschäftsideen zunehmend erfinderisch", sagt Markus Albers, der sich als Berater und Buchautor mit dem Wandel der Arbeitswelt befasst.

Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien machen auch vor klassischen Bürojobs nicht Halt: Sie fordern Arbeitgeber und Beschäftigte auf, umzudenken und bestehende Prozesse zu hinterfragen. Wer seinen Kollegen vor kurzem noch Dokumente per E-Mail geschickt hat, nutzt heute verschiedene Cloud- und Filesharing-Dienste, über die er Daten austauscht und die von überall zugänglich sind. Statt zu einem Meeting verabredet er sich zur Video-Konferenz. „Die Werkzeuge, um orts- und zeitunabhängig arbeiten zu können, werden immer besser“, sagt Experte Albers. Wo und wann ein Angestellter seine Aufgaben erledigt, spiele für viele Arbeitgeber keine Rolle mehr, schließlich kann man online mit seinem Smartphone oder Tablet fast überall sein.

Claudia Amtsberg-Vielsäcker nutzt diese Mittel regelmäßig: Die 40-Jährige Mutter ist 16 Stunden in der Woche beim Versandhändler Otto in Hamburg beschäftigt. Sind ihre Kinder krank oder sie mal mit einer Aufgabe im Büro nicht fertig, arbeitet sie flexibel von zu Hause aus. Dafür loggt sie sich auf dem Online-Personalportal ein, das ihre Stundenzahl digital erfasst. Neben dem Home-Office bietet Otto seinen Mitarbeitern auch Gleitzeit-, Teilzeit- und Sabbatical-Modelle an. „Hierin sehen wir große Chancen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – auch für unsere männlichen Mitarbeiter“, heißt es aus der Personalabteilung. Angestellte von Otto, die zu Hause ihre Angehörigen pflegen, nutzen die flexiblen Modelle ebenfalls.

Die digitalen Technologien bescheren Arbeitnehmern unbestritten viele Vorteile, vor allem wenn es um die neue Balance zwischen Job und Privatleben geht. Jutta Rump Leiterin des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) in Ludwigshafen, warnt jedoch ausdrücklich: „Theoretisch ist die Digitalisierung sicher hilfreich, um Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Arbeit immer mehr zu einem Teil des Privatlebens wird und umgekehrt.“ Dann werde allzu offensichtlich, dass hohe Flexibilität auch ihre Kehrseite hat: Wer überall und zu jeder Zeit arbeiten kann, tut dies womöglich auch – und vernachlässigt unter Umständen Familie, Freunde und sich selbst. Arbeitnehmer seien also gefordert, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und Grenzen zu setzen.

Für Otto-Mitarbeiterin Amtsberg-Vielsäcker war es kurz nach der Babypause eine Umstellung, von zu Hause aus zu arbeiten: „Anfangs war ich häufig versucht, abends noch einmal einen Blick in meine Mails zu werfen“, sagt sie. Inzwischen habe sie aber dazugelernt. Jetzt loggt sie sich außerhalb ihrer Bürozeiten nur noch ins System ein, wenn etwas Dringendes ansteht.

Arbeitgeber müssen sich im Zuge der Digitalisierung ebenfalls umstellen und viele sind sich dessen wohl bewusst: Im aktuellen Human-Resources-Report des IBE und des Personaldienstleisters Hays sehen 72 Prozent der befragten Führungskräfte das Managen von Veränderungen als größte Herausforderung. An zweiter Stelle steht der Umgang mit der steigenden Komplexität (52 Prozent). Chefs müssten lernen, so Arbeitsmarktexpertin Rump, ihren Angestellten zuzutrauen, dass diese ihre Arbeit sinnvoll gestalten. Gleichzeitig sollten sie sich auch ihrer Verantwortung als Arbeitgeber stellen und das Gespräch mit den Mitarbeitern suchen, wenn diese beispielsweise angesichts der technologischen Möglichkeiten erkennbar überfordert sind. „Idealerweise entsteht so als Folge der Digitalisierung eine offenere Kommunikationskultur im Vergleich zu früher“, sagt Rump.

Eine weitere Folge für die Bürowelt: effizienteres Arbeiten. Amtsberg-Vielsäcker verantwortet bei Otto den Hauptkatalog, ein Printmedium also, das sich trotz Internet und Co hartnäckig hält und das nach Unternehmensangaben vor allem Stammkunden als Nachschlagewerk schätzen. Viele Online-Kampagnen fließen aber längst in den Katalog mit ein und müssen entsprechend aufbereitet werden. Dafür stimmt sich Amtsberg-Vielsäcker mit Kollegen aus unterschiedlichsten Abteilungen ab. Dieser Prozess läuft über eine Marketing-Software, die alle Mitarbeiter auf einer zentralen Plattform mit einbezieht und die einzelnen Arbeitsschritte einer Kampagne transparent macht. Durch diese Software hat sich unter anderem die Anzahl an Mails mehr als halbiert: Bislang waren in einer Saison an die 600 Mails pro Kampagne üblich. „Das neue System wird zukünftig alles vereinfachen und deutlich beschleunigen“, sagt Amtsberg-Vielsäcker.

Keine Frage: Um in einer digitalisierten Arbeitswelt zu bestehen, brauchen Angestellte ebenso wie Arbeitgeber neue Qualifikationen. „Permanente Weiterbildung ist nötig“, sagt Experte Markus Albers. „Wissen veraltet enorm schnell“. Er empfiehlt daher sich nicht einmalig Wissen aneignen, sondern sich kontinuierlich zu bemühen, neu dazuzulernen – auch informell, zum Beispiel durch Youtube-Videos oder im Austausch mit Freunden“. Digitale Kompetenz zeichnet sich Albers zufolge neben IT-Knowhow auch durch die Fähigkeit aus, selbstbestimmt und kritisch mit den neuen Technologien und der Fülle an Informationen umzugehen. Angestellte in industriellen Arbeitsfeldern sind hier gefordert: Laut einer Studie der Boston Consulting Group (BCG) aus dem Jahr 2015 steigt zukünftig die Nachfrage nach Mitarbeitern mit IT-Kompetenz, die flexible und vernetzte Produktionsabläufe planen, simulieren und überwachen.

Wer sich entsprechende Kenntnisse aneignet, wappnet sich für die Entwicklungen des Arbeitsmarktes. Durch die Digitalisierung entstünden weit mehr neue Jobs, als in der klassischen Wirtschaft wegfallen, erklärte Kanzlerin Angela Merkel vor knapp einem Jahr auf einem Kongress zum Thema Digitalisierung in Berlin. Die BCG-Studie geht von einem ähnlich optimistischen Szenario aus: In den nächsten zehn Jahren könnten demnach 390.000 neue Arbeitsplätze infolge von Industrie 4.0 entstehen.

Anders sieht es das McKinsey Global Institute in einer Studie von Mai 2013: Die Organisation hält es für möglich, dass bis 2025 weltweit 140 Millionen Jobs sogenannter Wissensarbeiter durch intelligente Technik ersetzt werden. So also die unterschiedlichen Prognosen. Wie die Arbeitswelt von morgen aber nun wirklich aussieht? Und welche Technologien sich durchsetzen oder bald überholt sein werden? Das weiß auch kein Algorithmus.

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